allgäu
Neo Jazzrock [ 1978-1980 ]

1978 gründete Hubl Greiner zusammen mit Ludwig Schmid-Kemmeter die Neo-Jazzrock-Combo „allgäu“
(mit Ulrike Schimpf, Herbie Merk und Albert Frische).

 

Jazzrock Allgäu

Herbie, Hubl, Wickie

Ich bin in den 1950er und 1960er Jahren in einem kleinen bairischen Dorf aufgewachsen – in ein gelebtes Brauchtum hinein. Autos gab es nur wenige, statt dessen noch Pferde- und Ochsengespanne. Die Dorfgemeinschaft war mit wenigen Ausnahmen stockkonservativ und von Moralisierungen durchdrungen – die schulische Erziehung steif, bigott, prüde, autoritär. Prügelstrafen waren an der Tagesordnung.

Mit platter Volksmusik und seichten Schlagern flüchteten die Menschen in eine „heile Welt“, um anschließend wieder jener ängstlich bornierten Spießbürgerschaft zu frönen, die ihre dumpfen Reflexe gegen alles richtete, was sie nicht kannte.

Einer der Lichtblicke war das Kino meiner Großmutter. In dem ehemaligen Stall ihres Bauernhofes, indem sich das Kino befand, verbrachte ich viel Zeit und erkundete mit großer Begeisterung mir unbekannte Welten.

Auch entdeckte ich im Alter von 12 Jahren die Radiosendung „Club 16″, im Bayerischen Rundfunk. Die fast schon avantgardistische Jugendsendung brachte alles, was nicht Balla Balla war, was man sonst nicht zu hören bekam – Rock, Soul, Blues, Jazz, Folk, Neue Musik, Weltmusik etc. Diese Musik war eine Art Gegenentwurf zu den Zwängen und Wunschträumen der kleinbürgerlichen, engen Dorfwelt. Sie spiegelte nicht nur die Vielfalt des Lebens, sondern auch das politische Geschehen wider. Sie regte zum Mitdenken an, forderte zur Veränderung auf, erzählte etwas über das echte Leben. Sie symbolisierte die Abkehr von der biederen Nachkriegszeit. Mit dieser Musik, dem einhergehenden Lebensstil und dem kulturellen Ethos konnte ich mich identifizieren.

Mit 16 infizierte mich mein Freund Bernd Seidel mit John Coltrane und dem Jazz. Mit 18 lernte ich Franz kennen. Er musste als 4-jähriger mit ansehen, wie sein betrunkener Vater, seine Mutter mit dem Küchenmesser tötete. Franz kam in ein Kinderheim, Musik war sein Zufluchtsort. Wir saßen oft stundenlang in seinem Zimmer, um die außergewöhnlichen Raritäten seiner riesigen LP-Sammlung zu hören. Eines Nachmittags packte mich Franz am Arm und zerrte mich in meinen alten VW-Bus. Er hatte Karten für ein Konzert der französischen Band „Magma“ in München besorgt, das mich über viele Jahre künstlerisch beflügeln sollte. Franz hat meinen Einblick in die Welt der Musik entscheidend mit beeinflußt.

1978 habe ich die trügerische Idylle dann fernweh-getrieben verlassen. Ich trampte nach London, wo ich bei dem aus Indien stammenden Mathestudenten Sandip unterkommen konnte. Sandip erzählte mir von einer befreundeten Band, die unweit des Larkhall Parks in einer Abrissgegend in der Silverthorn Rd wohnte. Als wir die Musiker besuchten, stellte sich heraus, dass es sich um die Band „Henry Cow“ handelte. Der Gitarrist, Fred Frith, bot mir dann an, in dem Haus zu wohnen, da sie auf Tour nach Frankreich gingen und jemanden brauchten, den Telefondienst zu übernehmen.

Ich stellte mich also darauf ein, eine Woche alleine in dem Haus zu wohnen und Telefonanrufe zu beantworten. Einige Stunden später erschienen allerdings einige Leute, die wie selbsverständlich in die Küche gingen und zu kochen begannen. Wie ich dann herausfand, stand das Haus auch jederzeit für andere Künstler und Musiker offen. Cathy Williams und Geoff Leigh waren mit ihrer holländischen Band „Red Balune“ nach London gekommen, um einige Konzerte zu spielen.

 

In ganz Europa gab es zu dieser Zeit Bands, die ihre eigenen musikalischen Wege abseits des Mainstream verfolgten. Die Plattenfirmen waren an ihrer Musik nicht interessiert, weil sie nicht genügend Profit abwarf. Die Bands waren jedoch entschlossen, ihre eigene künstlerische Arbeit ungeachtet der Umstände zu verwirklichen. Im März 1978 veranstalteten Henry Cow in London das Festival Rock in Opposition (RIO), auf dem auch Stormy Six (Italien), Samla Mammas Manna (Schweden), Univers Zero (Belgien) und Etron Fou Leloublan (Frankreich) spielten. Die musikalisch sehr unterschiedlichen Bands hatten eines gemeinsam, ihre Unabhängigkeit. RIO wurde zum europaweiten Musiker-Kollektiv – es waren die Anfänge der sogenannten „Independent Music“.

Als Henry Cow wieder aus Frankreich zurück war, bekam ich meine erste Lektion in Sachen „Music Business“. Die Band kümmerte sich um alle organisatorischen Dinge wie auch um die Produktionsabläufe ihrer Tonträger selbst. Manager Nick Hobbs war festes Bandmitglied. Um 7 Uhr morgens rollte er in seinem „Schlafzimmer“, einem düsteren Kellerloch, seine Matratze zusammen und begann mit einer Tasse Kaffee und einer selbstgedrehten Zigarette zu checken. In der Küche bastelten Musiker später z.B. das Cover für „Hopes and Fears“ der Band „Art Bears“ und im Raum nebenan wurde musiziert. Als ich wieder mal das Telefon beantwortete, hatte ich Keith Richards von den Stones am Apparat, der mit den Musikern befreundet war. Für mich als grünschnabeliges Landei, war das alles ziemlich aufregend und lehrreich.

Nach meiner Zeit in London war ich noch einige Monate mit Schlafsack, Zahnbürste und Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in Asien unterwegs und versuchte heraus zu finden, wie es für mich nun weitergehen könnte. Als ich zurück nach Deutschland trampte, entschloß ich mich, inspiriert von meinen Erlebnissen, die Musik zu meinem Beruf machen zu wollen.

Hubl Greiner

ich

Zuhause angekommen, traf ich 2 Tage später einen Typ, der einen Schlagzeuger suchte. Wickie hatte lange zusammengebundene Haare, wie ich auch. Wir verstanden uns sofort und schmiedeten gleich erste Pläne. Als Wickie dann meinte: „bevor wir eine Band zusammen gründen, musst du Nietzsches Zarathustra lesen“, war das Unterfangen besiegelt. Kurze Zeit später tourten wir zusammen mit Ulrike Schimpf (Sax) und Herbie Merk (Git.) durch das Allgäu, die Schweiz und Frankreich. Die erste Konzertbesprechung schrieb übrigens der grandiose Franz Dobler, der damals noch kein Freund von mir war, für die Schongauer Nachrichten.

Wickie hatte eine ureigene Art Bass zu spielen. Er war ein Energiebündel, ein Macher, ein Neugieriger, einer der das Leben aufsog und viele unterschiedliche Interessen hegte. Wickie hatte Erfahrung, wie man eine Band vermarktet. Er brachte mir alles bei, wie man an Gigs kommt, Tonträger aufnimmt, Noten liest, morgens nicht zu lange im Bett bleibt etc. Um uns weiterzuentwickeln, begannen wir Musik an einer privaten Jazzschule zu studieren. Das Studium finanzierten wir durch Unterricht und kleinere Konzerte. Hin und wieder klauten wir Maiskolben vom Bauern, um satt zu werden.

2 Jahre später haben wir das Studium abgebrochen. Die konservativen und dogmatischen Lehrer waren davon überzeugt, Jazz und Klassik wären die einzig wahren Musikstile. Uns hingegen aber interessierte mehr: Folk, Rock, Funk, Punk, Klangkunst, Ethno, Noise, Neue Musik, die Avantgarde des 20. Jahrhunderts und alles, was das Universum so an Klängen hervor brachte.

Ludwig Schmid-Kemeter

Wickie

1979 gründeten wir eine Musiker-WG in einem Haus bei Buchloe und schlossen uns dem Musikernetzwerk Schneeball an. Es folgten Kontakte zu Bands wie Embryo, Checkpoint Charlie, Ton Steine Scherben, Guru Guru, Amon Düül, Elastic Rock Band, Bananas Groove Band, Missus Beastly, Munju, Kling Klong, Eugen de Ryk, Grace Yoon, Nekropolis (Peter Frohmader), Argile, Dissidenten, Julius Schittenhelm, Rotglut, Kraan etc. Schneeball-Records war das erste von der Musikindustrie unabhängige Plattenlabel in Deutschland. Es wurde wie „Rock in Opposition“ von den Musikern selbst organisiert und finanziert. Die Musiker komponierten, kümmerten sich um Produktion, Promotion, Booking, Covergestaltung, Veröffentlichungen und Marketing. Den Vertrieb der Tonträger ermöglichte ein Netzwerk von Kollegen und Freunden.

Ulrike

Nachdem sich unsere Band eine kleine aber feine Fangemeinde in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich erspielt hatte, kam Wickie am 15. Januar 1982 durch einen tragischen Autounfall ums Leben. Einen Monat vorher wurde er Vater. Ich bin ihm bis ans Ende meiner Tage verbunden. Der Begegnung mit ihm habe ich es mit zu verdanken, dass ich bis heute unbeirrt meinen Weg gehen kann.

Hubl Greiner

Neo-Jazzrock-Combo „allgäu“

Ludwig Schmid-Kemmeter (Wickie) – Bass
Hubl Greiner – Schlagzeug
Ulrike Schimpf – Sax
Herbie Merk – Gitarre
Albert Frische – Gitarre