In den 1980er Jahren lebte ich in einer Musiker-Kommune mit der Band Schäggi Bädsch in einem kleinen Dorf bei München. Eines Abends brachte ein Freund einen gebildeten, sympathischen Tramper mit, der vor einigen Jahren aus der Tschechoslowakei geflüchtet war und nun ein Museum in Nordrhein-Westfalen leitete. Während des Abendessens erzählte er von einem tschechoslowakischen Künstler, der eine deutsche Frau sucht, um dem kommunistischen Regime zu entkommen. Da seine Kunst nicht dem sozialistischen Realismus entsprach, wurde ihm die Arbeitsmöglichkeit entzogen und er musste am Fließband in einer Fabrik arbeiten. Die Heirat sollte ihm die Ausreise in den Westen ermöglichen. Eine Freundin von uns zeigte Interesse und nahm kurze Zeit später Kontakt zu ihm auf.
Z. war Konzeptkünstler. In einer seiner Serien zeichnete er Bilder, auf denen Silhouetten von Menschen zu sehen waren, die sich gegenüberstanden. Mit Strichen und Punkten skizzierte er verschiedene Möglichkeiten der Kommunikation: Einmal gingen die Striche durch den Kopf des Gegenübers, ein anderes mal prallten sie am Gesicht ab. In einem Bild war ein ‚Redeschwall‘ zu sehen, während die andere Person stumm blieb, etc. etc.
Die Grenze der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) ähnelte damals der innerdeutschen Grenze der DDR: einem hermetisch abgeriegelten Bollwerk mit strengen Kontrollen. Die beiden Heiratswilligen mussten sich deshalb über längere Zeit fingierte Liebesbriefe schicken, um den Verdacht auf eine Scheinehe zu vermeiden. Briefe wurden an der Grenze meist geöffnet und kontrolliert. Gut zwei Jahre später war es soweit: Die Hochzeit fand in einem kleinen Dorf in der Nähe von Brno statt. Z. konnte einige Zeit später nach Deutschland ausreisen und in meinem Haus in der Pfalz unterkommen.
Wir freundeten uns an und debattierten häufig über Kunst, Politik und das Leben. Durch ihn bekam ich Kontakt zum tschechischen Underground und lernte Musiker, Künstler und Schriftsteller kennen, die in ihrer Ausdrucksweise völlig anders waren als das, was ich bisher kannte.
Der Musiker Jiří Stivín realisierte zum Beispiel ein Projekt, bei dem er 122 Menschen einsetzte – so viele, wie eine Orgel Tasten hat. Jede Person erhielt eine mit Wasser gefüllte Flasche. Diese 122 Flaschen waren unterschiedlich gefüllt, sodass beim Anblasen Töne entstanden, die der Orgel entsprachen. Jeder Person war quasi ein spezifischer Ton der Orgel zugeordnet. Zuvor hatte Jiří die Orgel so umgebaut, dass jede Taste eine Glühbirne zum Leuchten brachte. Diese Glühbirnen wurden an den Köpfen der 122 Personen befestigt. Wenn das Licht einer Glühbirne aufleuchtete, musste die entsprechende Person in die Flasche blasen. Jiří bediente die „menschliche“ Orgel und spielte auf diese Weise sein Stück. Das Ergebnis war ein Flaschenchor, der über die Tasten der Orgel zum Klingen gebracht wurde. Ein weiterer Aspekt machte das Stück ganz besonders spannend: die unterschiedlichen Reaktionszeiten der 122 Personen. Durch die leichten zeitlichen Verzögerungen bekam das Stück eine wirklich außerirdische rhythmische Komponente.
Es gab viele gute Bands und Künstler, die entweder politischen Widerstand leisteten, wie zum Beispiel die „Plastic People of the Universe“, oder deren subversive Musik vielleicht imstande war, eine gesellschaftliche Rebellion zu initiieren, weil sie eben nicht dem sozialistischen Realismus entsprach. Diesen Künstlern war es nicht erlaubt, öffentlich aufzutreten, da sie für das autoritäre Regime offenbar eine Bedrohnung darstellten.
Um die Verbote zu umgehen, wurden sogenannte Samizdat-Konzerte veranstaltet. Die Spielorte wurden erst wenige Minuten vor Beginn an speziellen Treffpunkten bekannt gegeben. Meist fanden sie in Privatwohnungen statt. Bevor die Polizei erschien, waren die Konzerte bereits wieder zu Ende. „Samizdat“ bedeutet das heimliche Verfassen, Lesen und Weitergeben von nicht-regimekonformen Texten und Darbietungen. Auch in der Literatur gab es Samizdat – verbotene Schriften, die mithilfe von händisch betriebenen Abziehmaschinen vervielfältigt und privat verteilt wurden.
Einmal wurde ich eingeladen, ein Samizdat-Konzert zu geben, bei dem ich mit Peter Frohmader und Ulrike Schimpf im Wohnzimmer eines Generals spielte, der gerade auf Dienstreise war. Bei diesem Konzert lernte ich auch den Schlagzeuger Pavel Fajt kennen. Pavel lud uns anschließend zu einem weiteren geheimen Konzert ein, das seine Band speziell für uns veranstaltete.
Einmal war ich mit Z. im Theater in Brno. Die Musik zu dem Stück war phänomenal, und ich erkundigte mich, von wem sie stammte. Ich erhielt einen Namen und eine Adresse und nahm mir vor, den Komponisten am nächsten Tag zu besuchen. Zu meinem Leidwesen war ich damals mit einem Unternehmensberater unterwegs, den ich eigentlich nicht kannte. Der Typ hatte erfahren, dass ich in den Ostblock reise, und mich gefragt, ob er mitkommen könnte (warum, das weiß ich bis heute nicht). Ich hatte eingewilligt, und wir fuhren mit seinem Auto, einem Porsche, in die damalige ČSSR. Typ und Auto waren natürlich ein Fremdkörper in dem sozialistisch geführten Land. Am nächsten Tag fuhren wir also zu dem Haus des Komponisten. Als der Musiker den Porsche sah, meinte er, für reiche Westler habe er keine Zeit. Es dauerte eine Weile, ihm klarzumachen, dass ich mit dem Typ und dem Porsche nichts zu tun hatte. Nachdem ich ihm die LP meiner damaligen Band Schäggi Bädsch in die Hand gedrückt hatte, durfte ich nach einem kurzen Probehören ins Haus. Der Unternehmensberater musste draußen bleiben. Pavel Richter hieß der Komponist, der bis heute einer der kreativen Ideengeber der tschechischen Musikszene ist.
Da ich einige der verbotenen Bands ziemlich gut fand und die Musikszene im Westen nichts Vergleichbares kannte, kam mir die Idee, gute Aufnahmen zu machen und diese im Westen zu veröffentlichen. Ich besorgte mir einen Mehrspur-Kassettenrecorder und schmuggelte ihn mithilfe von Z. über die Grenze. Das war nicht einfach, da die Grenze streng bewacht war und jedes Fahrzeug genau unter die Lupe genommen wurde. Am Ende hatten wir Glück: Das Kassetten-Deck wurde nicht entdeckt, und wir konnten einreisen. Über Z. kontaktierten wir drei „verbotene“ Bands; zwei von ihnen waren mit Aufnahmen einverstanden. Wir zeichneten die Bands also in irgendwelchen Kellern auf und schmuggelten die Aufzeichnungen anschließend nach Deutschland. Das Label Indepandance / EfA veröffentlichte diese Mitschnitte 1985 unter dem Namen „Meka Černého Humoru“ (Mekka des schwarzen Humors). Der Bayerische Rundfunk berichtete darüber, mein Freund Franz Dobler schrieb einen Artikel in dem Independent-Szenemagazin Nuvox. Die Bands hießen Band X und Band Y. Das Cover stammte von dem tschechischen Künstler Vladimír Kokolia.
Diese Veröffentlichungen hatten sich auch in der Tschechoslowakei herumgesprochen, sodass ich daraufhin häufig Kassetten von Underground-Bands aus der Tschechoslowakei zugeschickt bekam. Irgendwann war eine Aufnahme von Iva Bittová dabei. Ich war so begeistert, dass ich gleich versuchte, Kontakt aufzunehmen. Da die Musiker*innen aus der Tschechoslowakei nicht ohne Genehmigung des Staatsapparats ins Ausland reisen oder konzertieren durften, musste ich mit Prago Concerts verhandeln, die für solche Dinge zuständig waren. Iva war keine „verbotene“ Künstlerin und durfte offiziell Konzerte in der ČSSR geben. Gleichzeitig bemühte ich mich darum, Konzerte in Deutschland zu organisieren, was nicht einfach war, da sie hierzulande niemand kannte. Nach längerer Zeit hatte ich drei Termine fest. Unter anderem gab es ein Konzert mit Iva Bittová und Pavel Fajt, Elliott Sharp und The Blech im Pavillon in Hannover. Anschließend hatten wir in Konstanz einen Tag Zeit, um die LP „Svatba“ (Hochzeit) in meinem Tonstudio Klang und Hammer einzuspielen.
Vor den Aufnahmen schrieb ich einen Brief an Fred Frith mit der Bitte, sich um die Produktion des Albums zu kümmern, da er einen einflussreicheren Namen hatte als ich, in der Hoffnung, dass sich das Duo dadurch im Westen besser Gehör verschaffen könnte. Leider bekam ich keine Antwort von Fred, mit dem ich einige Jahre zuvor bereits in London zusammengewohnt hatte. Ich produzierte die LP selbst. Das Label „Review Records“ veröffentlichte die Platte 1987. Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von Fred: Es täte ihm leid, er habe meinen Brief nur so nebenbei gelesen, die LP gehört und sie sei für ihn eine der besten Produktionen der letzten Jahre.
Etwas später spielte Iva mit Pavel Fajt auf dem Mimi-Festival in Südfrankreich, wo ich sie Fred Frith vorstellte. Noch am selben Tag wurden Iva und Pavel eingeladen, bei den Dreharbeiten zum legendären Dokumentarfilm „Step Across the Border“ von Nicolas Humbert und Werner Penzel mitzuwirken.
Iva Bittová und Pavel Fajt gaben danach noch eine kurze Zeit gemeinsam Konzerte, auch im Westen. Danach trennten sie sich. Iva machte von da an eine beispiellose Karriere. Der Dachverband der Schweizer Musikclubs PETZI schrieb 2009 treffend: „Die tschechische Sängerin, Geigerin und Komponistin Iva Bittová gehört zu den exquisitesten Persönlichkeiten der heutigen Musik“.
Hubl Greiner