DIE KRAFT DER MUSIK
Über die Wirkung von Musik in ihre Rolle in unserer Gesellschaft
Im Frühjahr 2020 durften wegen des Corona-Lockdowns keine Konzerte stattfinden. Ein Ministerpräsident kommentierte dies mit: „Aber Sie können ja zu Hause mit Ihrer Partnerin tanzen.“ Warum diese Aussage nicht wirklich intelligent ist, erläutere ich in diesem Artikel, der auf einem Vortrag basiert, den ich 2010 an der staatlichen Universität Jakutsk in Sibirien gehalten habe.
Iva Bittová
1. Musik vor über 40.000 Jahren?
Schon unsere Vorfahren haben bei der Arbeit, bei Ritualen oder Festen gesungen und getrommelt. Archäologische Funde von Musikinstrumenten aus Mammut-Elfenbein oder Knochen, die über 40.000 Jahre alt sind, belegen, dass Musik bereits damals eine zentrale Rolle in der menschlichen Kultur spielte. Auch die Sprache hat sich möglicherweise aus musikalischen Elementen entwickelt, denn wenn wir miteinander kommunizieren, kommt es nicht nur auf den Inhalt der Worte an, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir sie aussprechen – Akzente, Dynamik, Tempo, Pausen, Tonhöhen und Intonation sind entscheidend dafür, wie wir eine Nachricht wahrnehmen. In gewisser Weise „singen“ wir also, wenn wir sprechen, da die sprachlichen Melodien und Rhythmen wichtige Teile unserer Kommunikation sind.
2. Ist Musik eine universelle Sprache?
Forscher haben herausgefunden, dass es in der vokalen Musik weltweit ähnliche Funktionen und Formen gibt. Menschen, auch musikalische Laien, können Tanzmusik, Wiegenlieder oder rituelle Heilgesänge eindeutig zuordnen, unabhängig aus welchem Kulturkreis sie stammen.
„Ein musikalisches Großexperiment zeigt: Tanz- und Wiegenlieder sind quer durch alle Kulturkreise verständlich.“ — Ruth Hutsteiner, science.orf.at
Auch kommunizieren Musiker über geografische und kulturelle Grenzen hinweg. Durch gemeinsames Musizieren synchronisieren sich ihre Gehirnströme. Sie kommunizieren entweder über die vorgegebenen Attribute einer Komposition oder improvisieren ohne Noten, indem sie die Musik spontan erfinden und realisieren.
Auch musikalische Laien kommunizieren in bestimmten Situationen mit Klängen und Geräuschen, wie zum Beispiel Schmatzen, Pfeifen, Schnalzen, Zischen, Hupen, Klingeln, Läuten etc.
3. Was kann Musik leisten?
Musik ist tief in uns verankert und hat ihren Ursprung im kollektiven Erleben. Sie dient als Werkzeug zur Kommunikation oder als gemeinschaftliches Ritual, bei dem alle mit einbezogen wurden.
Studien zeigen, dass Musik das Gehirn positiv beeinflussen kann. Sie fördert kognitive Leistungen, regt das Lernen an und kann sogar Gene aktivieren, die schützend auf das Gehirn wirken. Darüber hinaus kann Musik die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin stimulieren.
„… Damit konnten wir einen direkten Zusammenhang zwischen Dopamin, durch Musik ausgelöste Freude und Motivation belegen“. Daniela Albat (wissenschaft.de) und Laura Ferreri (Universität Barcelona, Proceedings of the National Academy of Sciences)
Musizierende Kinder und Jugendliche profitieren auf vielfältige Weise: Sie entwickeln ein besseres Sozialverhalten, steigern ihren IQ, werden emotional sensibler – lernen Solidarität und Teamgeist. Auch lässt sich oft eine Verbesserung der schulischen Leistungen sowie eine Kompensation von Konzentrationsschwächen beobachten. Durch das Mitwirken in einem Orchester, einer Band oder einem Chor, lernen sie die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Musik hilft ihnen, neue Perspektiven zu finden und ihre Persönlichkeit zu formen.
Musik fördert Begegnung, Kommunikation und Verständigung. Musik kann Brücken zwischen unterschiedlichen Kulturen bauen und den Frieden zwischen Menschen fördern. Kulturelle Zusammenarbeit bedeutet, dass die Menschen mehr übereinander wissen, was zu einer tieferen Verbindung führt.
„Ohne gegenseitiges Wissen gibt es kein gegenseitiges Verständnis, ohne Verständnis keinen gegenseitigen Respekt und kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es keinen Frieden.“ Roman Herzog
Musik steigert also nicht nur unsere Lebensqualität und unser soziales Engagement, sondern hat auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit und spielt eine bedeutende Rolle in der Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung.
Das wirklich Spannende an Musik ist deshalb nicht ihr marktwirtschaftliches Potential, sondern dass sie ein Teil von uns selbst ist.
4. Musik, Heilung, Spiritualität
Schamanen und Sufis nutzen seit Jahrtausenden die Kraft der Musik, um Menschen zu helfen. Auch die moderne Medizin erkennt heute die potenziell therapeutische Wirkung von Klängen und setzt sie in der Schmerztherapie, bei Tinnitus, Depressionen, Schlaganfällen, Parkinson und anderen neurologischen Erkrankungen ein. Auch bei Demenzkranken zeigt Musik positive Wirkungen, indem sie es ermöglicht, alte Erinnerungen zu aktivieren und vorübergehend die Isolation durchzubrechen.
Klänge können Stress reduzieren, Ängste abbauen und die Entspannung fördern. Durch sanfte Schwingungen beruhigen sie das Nervensystem, verbessern die Durchblutung und tragen zu einem Gefühl von innerer Ruhe bei. Musik kann helfen, funktionelle Störungen zu lindern und die Selbstheilungskräfte zu unterstützen. Eine Studie zur vibroakustischen Stimulation mit einem Körpermonochord hat gezeigt, dass Klänge positive emotionale Reaktionen bei Patienten mit psychosomatischen Störungen auslösen können.
Studie: Positive emotionale Erfahrung: Induziert durch vibroakustische Stimulation mit einem Körpermonochord bei Patienten mit psychosomatischen Störungen von H. Sandler, Charité Universiätsmedizin Berlin
Die Wirkung von Musik auf unser Nervensystem ist gut dokumentiert. Klänge beeinflussen die Ausschüttung von Hormonen, wirken auf die Muskulatur und fördern emotionale Balance. Sie führen uns oft aus der rationalen Denkweise in eine Welt des Fühlens, was zu einer tiefen Entspannung und emotionalen Beruhigung beitragen kann.
Gongs und Trommeln, deren Vibrationen besonders stark sind, haben eine ganz spezielle Wirkung. Diese Instrumente erzeugen Schwingungen, die nicht nur hörbar, sondern auch körperlich spürbar sind. Während des Spiels entstehen Schallwellen, die den Körper durchdringen und zur Beruhigung und Entspannung beitragen können. Obwohl die Wahrnehmung dieser Klänge von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, berichten viele von einem Gefühl der Leichtigkeit und Geborgenheit.
Musik spielt auch in vielen spirituellen Traditionen eine zentrale Rolle. In Kulturen auf der ganzen Welt – ob im Schamanismus, Sufismus oder in der christlichen Orthodoxie – wird Musik verwendet, um Trancezustände zu induzieren, spirituelle Erfahrungen zu ermöglichen und Heilungsprozesse zu unterstützen. Diese Verknüpfung von Klang, Ritual und Bewusstsein verleiht der Musik eine besondere Tiefe und macht sie zu einem wichtigen Werkzeug für spirituelles Wachstum und Heilung.
5. Musik und Geräusch
Sind Menschenaffen unmusikalische Gesellen, da sie nicht in der Lage sind, „saubere“ Töne zu erzeugen? Oder müssen wir lernen, dass es bei der Definition von Musik unterschiedliche Perspektiven gibt?
Musik wird schon lange nicht mehr nur durch klassische Elemente wie den reinen Ton oder Klang definiert. Seit John Cage ist uns bewusst, dass alles was klingt, also auch ein Geräusch, Musik sein kann. Klänge berühren uns seelisch, körperlich und emotional. Auch Stille löst in uns starke Gefühle aus.
Die Idee, dass Musik nicht immer „schön“ sein muss, sondern dass auch Geräusche einen ästhetischen Wert haben können, öffnet die Tür zu einem tieferen Verständnis von Klang und Kunst im Allgemeinen. Dieser Gedanke stellt die traditionelle Vorstellung von Musik, die oft mit Harmonie, Wohlklang und struktureller Perfektion assoziiert wird, infrage.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Klangbegriff vor allem durch den Komponisten John Cage erweitert. Er vertrat die Ansicht, dass jede Art von Geräusch als musikalisches Material genutzt werden kann und dass Musik nicht nur auf „schönen“ oder „harmonischen“ Klängen beruhen muss.
In diesem Sinne kann alles Musik sein – selbst das Rauschen einer defekten Stereoanlage, das Dröhnen eines Zuges oder das Knistern einer Vinylplatte. Diese Geräusche können eine ästhetische Bedeutung haben, weil sie unseren Hörraum erweitern und uns sensibilisieren für Klänge, die wir normalerweise ignorieren oder als störend empfinden.
John Cage hat 1952 mit 4’33“ gezeigt, dass jeder Klang, jede Geräuschkulisse, als musikalische Komponente wahrgenommen werden kann. Das radikale Stück besteht aus vier Minuten und 33 Sekunden Stille. Die Musik ergibt sich aus den Umgebungsgeräuschen, die während der Aufführung auftreten – dem Husten des Publikums, dem Rascheln von Kleidung, dem Rauschen der Lüftung – all diese Geräusche werden zum Teil der musikalischen Erfahrung.
Bei Clicks & Cuts, eine von Mille Plateaux geprägte Stilrichtung der elektronischen Musik, wird das digitale Knistern und Knacken von fehlerhaften Audiofiles bewusst als musikalisches Element genutzt und in den kreativen Prozess eingebunden. Der Künstler Alva Noto integriert in seinen Alben, wie etwa bei „Xerrox Vol. 1“ (2007), solche Klänge in seinen Kompositionen. Sie werden nicht als Fehler betrachtet, sondern als ein wesentlicher Teil der musikalischen Struktur.
Auch in der Film- oder Theatermusik sowie in vielen anderen Musikgenres, wie der Popmusik oder der Neuen Musik unterscheidet man nicht mehr zwischen Musik und Geräusch. Klänge werden gezielt eingesetzt, um Texturen zu schaffen, Stimmungen zu verstärken oder kreative Effekte zu erzielen.
6. Musik und Widerstand
Eine intelligente, moderne und demokratische Gesellschaft gewährleistet jedem Menschen eine unabhängige Entwicklung und baut auf Solidarität, Freiheit, Toleranz, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung.
Um eine solche Gesellschaftsordnung zu verwirklichen und zu erhalten, ist Widerstand gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur notwendig. Kulturelle Ansätze, die sich gegen menschenunwürdige Verhältnisse stellen und sich an einer freien Gesellschaft orientieren, machen auf solche Missstände aufmerksam. Musik hat dabei oft gesellschaftliche Veränderungen begleitet oder sogar mit angestoßen.
In der Punkbewegung beispielsweise steht die Rebellion gegen gesellschaftliche, politische und kulturelle Missstände im Mittelpunkt. Bands wie die Sex Pistols und The Clash äußerten ihre Ablehnung gegenüber politischen Verhältnissen offen und griffen aktuelle Themen auf, die sie auf Konzerten mit ihrem Publikum teilten. Auch andere Musikrichtungen wie Blues, Jazz, Rock, Reggae und Outlaw-Country haben eine ähnliche politische Sprengkraft.
Musik kann Inhalte und Empfindungen vermitteln und helfen, Bewusstsein zu entwickeln. Sie regt uns an, zu hinterfragen, zu kritisieren und aufzuklären.
Kunst und Kultur sind in totalitären autokratischen Systemen oft der einzige Raum für unabhängiges Denken. Nur hier können sich Menschen gleichberechtigt begegnen und ungehindert Ideen austauschen – sofern sie dafür nicht verfolgt oder eingesperrt werden. Kultur wird in solchen Lebenssituationen zum Sprachrohr, mit dem sich Menschen mitteilen können. Sie wird zur Kraft, die Veränderungen nicht nur äußert, sondern auch bewirken kann.
Musik kann also eine wichtige Rolle dabei spielen, antidemokratischen Tendenzen entgegenzutreten. Sie ist ein kraftvolles Medium, um demokratische Werte zu fördern und Toleranz sowie Respekt zu stärken.
7. Authentizität vs Perfektion
Emotionaler Ausdruck und die persönliche Haltung des Künstlers sind in der Musik oft wichtiger als Perfektion, technische Meisterschaft oder Fehlerlosigkeit, weil sie den Zuhörer ungeschönt und ehrlich ansprechen. Musik muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu sein; vielmehr geht es darum, Gefühle, Gedanken und Erlebnisse direkt und unverfälscht zu vermitteln. Die Authentizität des Künstlers verleiht der Musik sozusagen eine universelle Anziehungskraft.
8. Die Signatur der Persönlichkeit
Musikalische Ausbildung könnte eine tragende Säule unserer Gesellschaft sein, denn sie unterstützt die wesentlichen Funktionen unseres sozialen Lebens und erhöht unsere Lebensqualität. Eine musikalische Ausbildung, die Kindern und Jugendlichen einen spielerischen und freudvollen Zugang zur Musik ermöglicht — ohne Druck und Perfektion — ist dabei besonders wertvoll. Die Kinder lernen so, die Musik wirklich zu erleben und zu empfinden. Sie entwickeln die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, zu verstehen und zu vertrauen. Dieser Kontakt mit ihrer Innenwelt, ihren Gefühlen, Träumen, Sehnsüchten, Fantasien und Wünschen schafft die Voraussetzungen, die es ihnen später ermöglichen, ihre eigene Persönlichkeit in die Musik einzubringen.
Künstler müssen mutig sein — nicht nur gut oder selbstgefällig. Sie müssen bereit sein, lustvoll zu scheitern. Sie brauchen Pioniergeist, müssen sich von den Zwängen der bestehenden Ordnung lösen. Je mehr wir Musiker dazu ermutigen, innovativ, unorthodox und experimentierfreudig zu sein, desto bereichernder wird unsere Musik und unser Leben. Wir müssen ihnen helfen, das Besondere in sich selbst zu erkennen.
9. Musik und Sterben
Da uns die Musik den Kontakt zur Innenwelt erleichtert, ist ihr Einsatz in extremen Lebenssituationen besonders wertvoll. Sie wird daher auch in der Sterbebegleitung eingesetzt und spielt eine große Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben.
Daniel Barenboim schreibt in seinem Buch „Klang ist Leben“, dass wir durch Musik auch etwas über uns selbst und unsere Gesellschaft erfahren können. „Beim Hören von Musik spüren wir, wie ein Klang geboren wird und wie er stirbt, wie er sich wieder in Stille verwandelt. Das ist ein Vorgang, der etwas über unser Dasein aussagt und jede Pore unserer Existenz betrifft. Wenn ein Ton stirbt, spüren wir eine tragische Dimension, die uns — ob wir jetzt Musik spielen oder hören — einen anderen Bezug zum Tod vermitteln kann.“
Soweit mein Vortrag über die „Bedeutung der Musik“ an der staatlichen Universität Jakutsk/Sibirien.
Hubl Greiner, 2010
NACHTRAG – Die verbindende Kraft
Musik ist also eine verbindende Kraft, die uns helfen kann, Krisen zu überstehen. Ich schätze Menschen, die diesen Wert von Kunst und Kultur erkennen und würdigen – die aktiv dazu beitragen, eine inklusive und dynamische Gesellschaft zu bewahren – basierend auf gegenseitigem Respekt, Verständnis und Zusammenhalt.
Die Aussage des Herrn Ministerpräsidenten erscheint mir diesbezüglich leider etwas zu bierdimpflig. Ein Bierdimpfl ist, wie die SZ schrieb, die höchste Ausprägung bayerischer Meditationskunst: Ein Mann, der stundenlang in sich ruhen kann, allein mit seinem Maßkrug, ohne dass auch nur der Hauch eines Gedankens sein Hirn durchkreuzt.
„Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert.“ Richard von Weizsäcker, 1991
Stepanida Borisova und Hubl Greiner in Jakutien, 2010